artikel uit Die Zeit , #36 28-08-2003
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Der hochstapler

Seit 20 Jahren arbeitet der holländische Künstler Louis Le Roy an der Ökokathedrale, seinem Gegenentwurf zur öden Normarchitektur. Wild lässt er die Natur wuchern und schichtet täglich Stein auf Stein
 
Von Frédéric Ulferts


Louis Le Roy wird nächstes Jahr 80 Jahre alt, aber noch immer geht er jeden Tag Steine stapeln. Mehrere Stunden lang steht er in diesem verwilderten Garten, schnappt sich ein paar Brocken, klopft sie mit dem Holzhammer ab, bürstet sie und schichtet sie aufeinander, bis sie wie Pyramiden aussehen. Das macht er seit 20 Jahren; mittlerweile sind seine Gebilde bis zu zehn Meter hoch. Le Roy benutzt keinen Zement, dass es trotzdem hält, liegt an der geschickten Anordnung. »Meine Bauten sind massiv, nicht so locker gemauert wie die der Ägypter, Azteken oder Khmer«, sagt er und fügt lächelnd hinzu: »Cuzco in Peru ist eine Ausnahme, die Inkas haben gut gearbeitet.« Der alte Mann mit dem großen Selbstbewusstsein und den strubbligen weißen Haaren trägt einen Blaumann wie einer, der richtig malocht. Das tut er auch, ohne Frage. Aber eigentlich ist er Künstler.westfirieslan ecokathedraal

Sein Kunstwerk liegt gut versteckt. Im holländischen Westfriesland, am Dorfrand von Mildam, führt rechts ein Weg zu einem kleinen Wäldchen. Eine Kette blockiert die Einfahrt, damit niemand seinen Geländewagen dort ausführt. Ein Schild warnt die Fußgänger: Betreden op eigen risico. Wer das Risiko auf sich nimmt und Le Roys Grundstück betritt, wird zunächst verwundert sein, denn er läuft direkt auf einen großen Haufen Pflastersteine zu. Beton- und Backsteine türmen sich, ein bisschen Gestrüpp wuchert. Es sieht aus wie auf einer verwilderten Müllkippe. Doch der erste Eindruck täuscht. Das Projekt, das der niederländische Künstler als ecokathedraal, als Ökokathedrale, bezeichnet, ist eine der eigenwilligsten Gartenanlagen, die man sich vorstellen kann.

Berühmt wurde Louis Le Roy Ende der sechziger Jahre. Da war er der »wilde Gartenmann«, der nicht einverstanden war mit den gestalterischen Auswüchsen der Städteplaner, die in seinen Augen die Umwelt immer eintöniger machten, alles glatt, kalt und ordentlich. Stattdessen versuchte er, möglichst vielfältige Strukturen aufzubauen. Erst im Garten seines Hauses in Oranjewoud, dann entlang einer Straße in Heerenveen. Sein Konzept: die »Kultursteppe« mit Bauschutt bedecken, gemeinsam mit den Anwohnern graben, Bäume, Blumen, Büsche pflanzen und schließlich wachsen lassen.

Das erregte Aufsehen, weitere Projekte in Brüssel, Groningen und Paris folgten. Auch Bremen, Hamburg, Kassel und Oldenburg waren interessiert. Doch Planern und Politikern war der selbstregulierende Charakter der Anlagen von Le Roy offenbar suspekt. In Brüssel, Groningen und Paris zerstörte man die wilden Gärten, in den anderen Städten ließ man sie gar nicht erst wuchern.

In seinem Buch Natur einschalten – Natur ausschalten greift Le Roy daraufhin die üblichen Ziele der Grünpflege an: kurzen Rasen, gestutzte Hecken und rechteckige Beete. Führt keinen Krieg gegen die Natur, plädiert er, überlasst die Gestaltung lieber der Umwelt selbst!

Und er beginnt sein größtes Projekt. 1970 kauft er eine drei Hektar große Wiese in Mildam, vier Kilometer von Oranjewoud entfernt, günstiges Land, der Quadratmeter kostete einen halben Gulden. In nur wenigen Jahren wird daraus ein wilder Garten. Der Abriss eines Gefängnisses in Heerenveen 1983 bringt Le Roy auf eine ganz neue Idee. Auf die Idee einer Ökokathedrale, eines Bauwerks, das ohne Hilfe von Maschinen über Generationen errichtet wird. Wie die Kathedralen im Mittelalter.

Er bittet die Gemeinde, den Schutt nach Mildam zu fahren. Lastwagenweise kippen Arbeiter Steine in den Garten. Aber nicht nur den Gefängnisschutt, alle Arten von Steinen, die nicht mehr gebraucht werden: 2500 Lastwagenladungen sind es bis heute, circa 25000 Tonnen. Zuerst finanziert er sein Projekt mit dem, was er als Kunstlehrer verdient, heute reicht seine Pension. Weil es so simpel ist und in erster Linie auf seiner eigenen Arbeitskraft basiert, braucht er weder Eintrittsgeld noch öffentliche Zuschüsse. Seit 20 Jahren arbeitet Le Roy nun daran, aus dem Land, den Pflanzen und dem Schutt ein möglichst komplexes System zu formen – Tag für Tag. Je größer die Vielfalt, desto größer der Wert eines Ökosystems, sagt er.

Je tiefer man in das Grundstück eindringt, desto imposanter sind die Spuren seiner Arbeit. Das Gestrüpp wird immer dichter, die Steinhaufen sind zum Teil völlig überwuchert. Sie sehen aus wie die Mayatempel von Chichén Itzá – mitten in Friesland. »Die Türme speichern Regenwasser«, sagt er, »deshalb wachsen so viele Pflanzenarten in der Kathedrale. Viel mehr als auf einer Wiese.« Einige Türme will er noch höher stapeln. Egal, wie es aussieht. Auf Schönheit komme es ihm sowieso nicht an. Le Roy redet lieber von Wissenschaft und Philosophie, wenn es um sein Projekt geht. Vom belgischen Chemie-Nobelpreisträger Ilya Prigogine und dessen Entwicklung komplexer Strukturen. Von Henri Bergson und dessen Werken über den Einfluss von Zeit und Raum auf die menschliche Kreativität. Stundenlang redet Le Roy über seine Vorbilder, über den theoretischen Überbau, den er mit seinem Langzeitprojekt umsetzen will. Doch die kunstvollen Muster, in denen die Steine angeordnet sind, sprechen noch eine andere, sinnlichere Sprache. Hier geht es nicht nur um Wissenschaft und Gesellschaft, hier geht es auch um Kunst.

Wie in seinem Haus in Oranjewoud. Es ist voll gestopft mit Kunstbänden, Hunderte zylindrischer Stücke aus böhmischem Kristallglas stehen in den Regalen und leuchten in allen Farben. Er hat sie auf Flohmärkten gekauft und kunstvoll arrangiert, zum Teil ineinander geschachtelt. »Damit sie möglichst viele verschiedene Formen bilden«, sagt Le Roy. Auch beim Glas zeigt sich: Die Sprache seiner Ästhetik ist die Sucht nach Komplexität.

Wenn Le Roy fantasiert, und das tut er recht häufig, dann sieht er die Städte der Zukunft genau vor sich. Sie sehen aus wie seine Ökokathedrale. Gern würde er natürlich solche Städte bauen. Und für den Anfang sogar recht bescheiden bleiben: Nur ein Prozent der Fläche und ein Prozent ihrer Bewohner als Mitwirkende reichten ihm da. »Dann könnte man die Städte radikal ändern, denn sich selbst organisierende Systeme sind geplanten überlegen, weil sie komplexer sind.« Zumindest sind sie langfristiger angelegt. Le Roy hat eine Stiftung gegründet, die die ecokathedraal bis zum Jahr 3000 weiterführen soll. »Das Projekt ist generationenübergreifend, wie es die Kathedralen des Mittelalters ja auch waren.«

Am Ende seiner Visionen, auf dem Schutt und auf dem Humus vieler Jahre gebaut, soll oben auf der ecokathedraal ein sozialer Wohnungsbau stehen. Ein Haus aus Stein, Holz und Glas, inmitten von wucherndem Grün. Das würde dann, sagt der Meister, eine höhere Lebensqualität bieten als herkömmliche Siedlungen. Denn eines kann Le Roy nicht verstehen – die industrielle Welt: »Wenn wir Menschen das Bedürfnis nach Abwechslung und Vielseitigkeit haben, warum schaffen wir uns dann überall eine langweilige Umgebung?«


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